Sonntag, 3. August 2014

Gratis 4. bis 6. Kapitel: Der Pakt oder Sind Männer wie Socken?

Hallo Freunde der Nacht!

Heute haben unsere Vampire in dem ersten Band unseres Vampirromans etwas mehr zu sagen. Darum gibt es aus dem kostenlosen Onlinebuch, hier auf meinem Blog, heute gleich drei neue Kapitel! Ich finde, man muss Kapitel vier und sechs einfach zusammenhängend lesen.
Ich wünsche ein dunkel-spannendes Lesevergnügen.
Dunkle Grüße, eure Laya Talis
 

Und hier wie immer eine Sonntagsfrage zum Buch: Sind Männer wie Socken? ;-)


 zu allen bisher hier veröffentlichen Kapiteln: Der Pakt gratis

Kopieren und weiterverbreiten des Textes ist nicht gestattet! Danke für euer Verständnis.
Wer es nicht abwarten kann oder mich unterstützen möchte: Das komplette Taschenbuch gibt es hier bei Amazon: Amazon (Taschenbuch) 
Und das E-Book ebenso hier: Amazon E-Book und auf allen anderen gängigen E-Book-Plattformen. 
 

Anna Sander

Der Pakt – Zwischen Göttern und Teufeln, 
Band eins
Copyright: © 2013 Laya Talis

Kapitel vier
Sophia
In einer Kleinstadt irgendwo in Deutschland

Lilli rüttelte an dem dünnen Stamm der Pflanze in Sophias karg eingerichtetem Wohnzimmer. Die vertrockneten Blätter raschelten, als bäten sie um Erbarmen, während Lilli die kümmerlichen Reste der Palme malträtierte.
„Ich studiere zwar BWL und nicht Botanik, aber ich glaube, die ist hin!“ Lilli grinste und setzte sich wieder neben ihre Freundin Sophia auf die weiße Ledercouch. „Ich hoffe du wirst deinem Würmchen öfter zu trinken geben, als deinen Pflanzen.“ Grinsend tippte sie auf Sophias Bauch, der sich mit einer deutlichen Wölbung unter ihrer weißen, kurzärmligen Bluse abzeichnete.
„Babys haben zum Glück die Angewohnheit zu schreien, wenn sie was wollen.“ Sophia lachte und nippte an ihrem Kaffee. „Hätte die Palme sich gemeldet, hätte ich sie nicht vergessen.“
„Das ist eine jämmerliche Ausrede“, befand Lilli und strich  eine ihrer unbändigen, blonden Locken hinter ihr  Ohr. Lilli entsprach dem Bild, das man sich von  Engeln machte. Ihr langes Haar kringelte sich in vielen kleinen Locken um ihr hübsches Gesicht. Sie hatte weiche, noch  kindliche Gesichtszüge, eine  Stupsnase und einen  Schmollmund. Ihre Augen waren rund und himmelblau und ihre Haut blass, aber dafür feinporig und glatt. Trotz ihres hochgewachsenen Körpers war sie zierlich geblieben und hatte eine helle, fast schon piepsige, Stimme.

Ganz das Gegenteil von Sophia, mit ihrem dunkelbraunen, glatten Haar. Sophia hatte die beeindruckendsten Augen, die Lilli jemals gesehen hatte. Das satte klare Blau wurde von einem Kranz unendlich langer und dunkler Wimpern eingerahmt.  Schwarze Augenbrauen verliefen in einem perfekten Bogen über ihre hohe Stirn. Das schmale Gesicht mit markanten Gesichtszügen und vollen, sinnlichen Lippen, ließ sie sehr weiblich wirken. Lilli hatte zwar schon  schönere Frauen als Sophia gesehen, aber  niemanden mit auffälligeren Augen. Sophias Blick erschien Lilli in seiner Intensität manchmal wie mystisch, so als könnte sie einem Menschen damit bis auf den Grund der Seele schauen.
Sophia lehnte sich nach vorn und beschäftigte sich mit Lillis mathematische Gleichung, die der blonden Frau so kompliziert erschien und die sie nicht hatte lösen können. Lilli studierte im fünften Semester Betriebswirtschaftslehre und brachte öfter ihre Studienunterlagen mit zu Sophia, wenn sie Hilfe brauchte. Sophia fand diese Aufgabe simpel. Lilli fiel Mathematik hingegen schwer, zumindest hatte sie Sophia das erzählt. Die beiden jungen Frauen kannten sich seit drei Jahren und waren enge Freundinnen. Sophia nahm sich einen Bleistift, löste die Gleichung innerhalb weniger Sekunden und notierte für ihre Freundin das Ergebnis und den Rechenweg. Vielleicht hätte Lilli besser ein Fach wie Botanik gelegen … oder Angelologie?

„Schon fertig?“, fragte Lilli erstaunt und schaute skeptisch auf den Zettel. „Mann. Du solltest studieren und nicht ich.“
Sophia lächelte. „Ich habe schon einen Job. Außerdem würde man mich auf keiner Uni zulassen.“
„Hä? Wieso denn nicht? Ach so. Wegen des Babys.“
„Nein. Ich habe keinen Schulabschluss.“
„Was?“ Lilli lehnte sich verwirrt zurück und ihr Mund stand sogar offen, während sie Sophia ungeniert anstarrte, als hätte sie ihr gerade offenbart, dass sie noch an den Osterhasen glauben würde.
Sophia griff etwas verunsichert nach ihrer Kaffeetasse. Eine so starke Reaktion hatte sie nicht erwartet. Sie hatte es nie als schlimm empfunden, die Schule verlassen zu haben. Sophia arbeitete als Fotografin und das sehr erfolgreich. Dafür brauchte sie keinen Abschluss. Außerdem hatte sie eine schwere Zeit hinter sich. Der furchtbare Unfall damals, durch den sie jeden verloren hatte, der ihr etwas bedeutet hatte … Nein. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Es war gut, dass sie ihr altes Leben aufgegeben hatte und in diese kleine Stadt, weit von Berlin entfernt, gezogen war. Die räumliche Distanz erleichterte es ihr zu verdrängen, was passiert war.

„Ähm … tut mir leid“, sagte Lilli schließlich.
„Das braucht es nicht. Ich habe schließlich keine schlimme Krankheit, oder so.“ Sophias Mundwinkel verzogen sich verkniffen nach unten. Lillis Entschuldigung verletzte ihren Stolz. Sie wollte kein Mitleid.
„Äh, nein. So meinte ich das nicht.“ Lilli klappte ihren Ordner zu und sammelte auch  ihre restlichen Unterlagen zusammen. „Weißt du mittlerweile, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird?“
Der Themenwechsel kam zu plötzlich, als das er nicht beabsichtigt gewesen sein konnte, doch Sophia kommentierte das nicht. Ganz im Gegenteil. Sie nahm ihn dankbar an.
„Nein, weiß ich nicht.“
„Du warst aber mittlerweile beim Arzt, oder?“ Jetzt klang Lilli besorgt.
„Natürlich. Das Kleine lag nur ungünstig“, log Sophia, ohne dass Lilli es bemerkte. Sie hasste Ärzte und wusste nicht wieso. Sie misstraute ihnen und hatte nicht vor, irgendwen an ihr Baby oder  ihren Körper zu lassen. Zumindest nicht, so lange es sich vermeiden ließ. „Alex hat sich gemeldet.“
„Was will denn das Arschloch von dir?“, fauchte Lilli.
Sophia trank den letzten Schluck ihres Kaffees und seufzte. „Lilli, bitte. Er ist immerhin der Vater meines Kindes.“

Lilli war  zwanzig Jahre alt und sehr behütet aufgewachsen. Sophia sah es als Lillis Vorrecht an, schnell und hart ein Urteil fällen zu dürfen. Der jungen Frau fehlte die Lebenserfahrung, um Menschen anders, als nur in schwarz und weiß, zu klassifizieren.
„Bah. Du meinst wohl eher, er ist das Arschloch, dass dich mit dem Würmchen im Stich lässt.“
„Als er mich verlassen hat, wussten weder er noch ich, dass ich schwanger bin. Was erwartest du von ihm? Soll er bei mir bleiben, obwohl er mich nicht mehr liebt?“
„Er soll sich gefälligst um dich kümmern.“
Sophia schaute traurig auf den Boden. Ja, das war es  auch, was sie sich wünschte. Nein, eigentlich wünschte sie sich, dass Alex sie wieder lieben würde und sie eine Familie sein könnten, doch sie wusste, dass das ein Wunschtraum war.
„Was will er denn nun?“, fragte Lilli.

Sophia schluckte ihre Tränen herunter, wie sie es immer tat, und schritt zum  Fenster. Sie wohnte im zweiten Stock eines kleinen Mietshauses. Die Fensterscheibe war schmutzig. Sophia schaute auf die wenig befahrene Straße hinunter und bemerkte eine kleine Gestalt, die auf dem Bürgersteig gegenüber stand und zu ihrem Fenster hinaufsah. Sie fiel ihr auf, da die Frau trotz der sommerlichen Temperaturen einen langen Mantel trug, dessen  Kapuze aufgesetzt und tief in ihr Gesicht gezogen hatte. Dass es eine Frau war, erkannte Sophia daran, dass der Mantel eng geschnitten war und man eine schmale Taille und eine weibliche Brust deutlich erkennen konnte. Das Gesicht lag jedoch im Schatten der Kapuze verborgen.
„Hallo? Sophia? Träumst du?“

Sophia drehte sich wieder zu Lilli um. „Alex will seine restlichen Sachen abholen“, erklärte sie und ihr Blick fiel bezeichnend auf die kleine Stereoanlage und den Stapel CDs, die in ihrer schwarzen Vitrine lagen. Es war so ziemlich das einzige, was sich noch in dem Schrank befand. Vorher hatten dort sauber aufgereiht Alex´ Modelautos, seine Bücher und ein paar Kerzenständer gestanden. Das alles hatte er schon am gleichen Tag mitgenommen, an dem er ihre Beziehung beendet hatte. Zurückgeblieben waren eine dicke Staubschicht und die besagte Musikanlage, nebst seinen CDs. Selbst seine Bilder, die an der Wand gehangen hatten, waren mit ihm verschwunden. Das war jetzt sieben Monate her. Sophias Wohnung wirkte ohne Alex Sachen beinahe unbewohnt, denn abgesehen von ihrer Kameraausrüstung, dem Computer und ihrem Handy, hatte sie nicht viele persönliche Gegenstände. Im Wohnzimmer gab es nur noch die Vitrine, die bald völlig leer stehen würde, die Palme, die Sophia wegwerfen konnte, die weiße Ledercouch und ihr schwarzer Couchtisch. Ach ja. Den Haufen geplatzter Träume in der Ecke hätte sie beinahe vergessen. Wenn man den denn mitzählen wollte.

Die Küche sah ähnlich leer gefegt aus. Sophia kochte nicht gern, daher benutzte sie den Herd so gut wie nie. Das einzige Küchengerät  im Dauereinsatz  war ihre Kaffeemaschine. Blumen oder irgendwelche Dekorationsartikel gab es dort  nicht. Auch keinen Tisch oder Stühle, denn  die hatte Alex ebenfalls mitgenommen. Sie konnte froh sein, dass er ihr wenigstens ihr  Futonbett und den  Kleiderschrank mit den Spiegeltüren gelassen hatte.
„Er will sich also seine Sachen abholen. Schick ihn danach zu mir hoch. Da kann er sich noch eine Backpfeife abholen.“ Lilli schnaufte, schnappte sich ihre Studiensachen und stand auf.

„Ich sage es ihm“, sagte Sophia und lachte. Die uneingeschränkte Loyalität des blonden Engels tat gut. Lilli wohnte in der Wohnung über ihr. Sophia war kein geselliger Typ und hatte nicht viele Freunde. Eigentlich war Lilli ihre einzige Freundin, neben wenigen Bekannten.
Sophia streichelte ihren Bauch und blickte wieder auf die Straße. Die seltsame Frau mit dem Mantel war nicht mehr da.
„Soll ich bleiben?“, fragte Lilli sanft.
„Nein. Mir geht es gut“, log Sophia und lächelte.

Sie war traurig.
Sie war einsam.
In Momenten wie diesen, vermisste sie ihre Eltern. Sie hatte keine Familie mehr. Doch sie würde bald ein Baby haben und dann wäre sie nicht mehr allein. Sie freute sich darauf, endlich wieder eine Familie zu haben und ihrem Leben einen Sinn zu geben.
„Wann kommt Alex?“
„Morgen Vormittag.“
„Soll ich die Uni schwänzen und zu dir kommen?“, bot Lilli an.
„Nein. Das ist nicht nötig.“
Lilli zuckte ihre Schultern. „Schick mir ´ne SMS, wenn du mich brauchst. Schlaf schön, Sophia.“
„Danke … danke, Lilli“, sagte Sophia und nickte ihr freundlich zu. 

Kapitel fünf
Einen Tag später
New York
Jessica

Mike saß vor Jessica auf dem Teppich und nahm sich das letzte Stück Salamipizza aus der Schachtel. Jessica reichte ihm grinsend eine Serviette, als ihm etwas von der Tomatensauce auf sein Hemd tropfte. Mal wieder.
„Ah, Scheiße!“, schimpfte er und wischte über den dunklen Fleck,  was das Desaster nur noch vergrößerte.
Jessica warf einen Blick zur Uhr. Es war gleich halb drei. „Wenn du aufgegessen hast, gehst du besser.“
„He? Wieso?“, fragte Mike schmatzend.
„Frank wollte noch vorbeikommen und … äh, du weißt schon. Ich weiß nicht, wann er hier aufkreuzt.“ Sie klappte den Deckel der Pizzaschachtel zu und kratzte verlegen mit den Nägeln über die dicke, braune Pappe.
Mike stopfte sich den Rest Pizza in den Mund und ging in ihr  Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Als er zurückkam, hatte Jessica den leeren Pappkarton auf den Pizzaschachtelberg gelegt, den sie vor ungefähr zwei Stunden aus Langeweile errichtet hatte und strahlte ihn an. „Guck mal. Wir haben uns schon bis über meinen Hintern hochgefressen.“ Sie stellte sich neben ihr Werk. Die Schachteln türmten sich tatsächlich bis zu ihrer kurvenreichen Hüfte hoch.

„Stimmt.“ Mike klopfte sich auf seinen durchtrainierten Bauch, als hätte er eine dicke Wampe. „Das hättest du ohne mich nicht geschafft.“
„Ich bin sehr stolz auf dich, Wächter“, lachte Jessica und begann ihre schmutzige Wäsche einzusammeln, die in der ganzen Wohnung verstreut lag.
„Soll ich mir dein Bein nicht doch einmal ansehen?“
„Nein. Es heilt gut“, sagte Jessica und berührte die Narben an ihrem Hals. Die Wunden, die sie verursacht hatten, hatten damals sehr lange gebraucht, um sich zu schließen. Jessica gähnte herzhaft und kickte eine Socke mit ihrem Fuß vom Boden hoch. Anstatt jedoch auf den Berg Wäsche zu landen, wie erhofft, segelte das widerspenstige Kleidungsstück durch ihr Wohnzimmer und wieder auf die Erde. „Verdammt“, murmelte sie und bückte sich schließlich doch danach.
Mike zuckte seine massigen Schultern. „Falls es sich entzündet, sagst du mir aber Bescheid. So, dann geh ich mal lieber.“
„Okay!“, sagte Jessica  und räumte die Wäsche in ihre Waschmaschine, die in der Küche neben der Spüle stand. Sie stellte die Maschine an und ging zurück ins Wohnzimmer. Mike war schon weg. Da sie seit dem Vorfall mit Jonathan kaum geschlafen hatte, legte sich Jessica mit der Absicht, nur kurz ihre Augen zuzumachen, aufs Sofa. Sie war innerhalb weniger Minuten fest eingeschlafen.

Stunden später schreckte Jessica aus dem Schlaf, als sie hörte, wie ihre Tür aufgeschlossen wurde. Noch im Liegen hatte sie ihre Pistole gezogen, die sie auf die sich öffnende Tür richtete.
„Verdammt Frank! Klopf an und sag, dass du es bist, bevor du hier immer einfach herein schneist. Eines Tages schieße ich dir noch mal eine Kugel in dein kostbares Vermittlergehirn“, schimpfte sie und setzte sich auf. Seine ernste Miene versetzte sie jedoch sofort in Alarmbereitschaft.  Im nächsten Moment bemerkte Jessica, dass es draußen schon dunkel war. „Was ist passiert?“, fragte sie, stand auf und nahm ihr Kampfmesser und die dazugehörige Scheide, die an einem Lederriemen befestigt war, vom Tisch. Wie gewohnt legte sie ihren Fuß auf die Couch, krempelte das Hosenbein hoch und band den Lederriemen mit dem Messer um ihre Wade. Sie erwartete, dass er sie zu einem Kampf schicken würde.

„Master Friedrich ließ mir ausrichten, dass meine Entscheidung, keinen Wächter zu opfern, seine Zustimmung findet.“
„Das ist doch gut, oder?“, fragte Jessica vorsichtig und zog den Lederriemen fest.
„Jonathan hat vor einer Stunde mit Mr Simmon gesprochen. Es wurde eine weitere Entscheidung gefällt.“
„Oh!“ Mr Simmon war Franks direkter Vorgesetzter. Er war auch ein Vermittler, jedoch einer der zweiten Ebene, während Frank der ersten angehörte. Die Vermittler der dritten und ranghöchsten Stufe waren die Master und die Mistresses. Davon gab es  zwölf, ebenso wie es  zwölf Mitglieder des Rates gab. Die Ebene der Master war dem Rat Rechenschaft schuldig und der Rat einzig Gott.

Da die Organisation über alle Ländergrenzen hinaus agierte, unterwarfen sie sich keiner Regierung und hatten eine eigene Rechtsprechung. Es gab keine Richter, Geschworene, Anwälte oder dergleichen. Ein Master entschied in seinem Distrikt uneingeschränkt über das Ausmaß der Strafen. Ein Vermittler gleichermaßen über die Reglementierung seiner Wächter. Selbst die Exekution konnte jeder Vermittler bei seinen ihm untergebenen Wächtern anordnen. Zumindest, wenn er dafür schwerwiegende Gründe benennen konnte, wie zum Beispiel Befehlsverweigerung. Ein Master oder  der Rat brauchte dergleichen nicht, es reichte einzig ihr Befehl, den sie niemandem erklären mussten. Jessica war stolz, eine erste Wächterin zu sein, und glaubte an die Gerechtigkeit dieses Systems. Zweifel zu äußern, galt als Verrat und Verrat wurde seit jeher mit dem Tode durch Verbrennen bestraft. Gott würde aber nicht zulassen, dass ein Unschuldiger gerichtet wurde. Der Rat, gelenkt durch den Willen des Allmächtigen, würde rechtzeitig eingreifen und so etwas verhindern. Daher musste es gerecht sein.
Jessica zweifelte nicht und wusste, dass es ihre Bestimmung war, gegen Vampire zu kämpfen und die ihren zu schützen … Eine Bestimmung, die sie dennoch mehr und mehr aushöhlte, statt sie zu erfüllen.

„Jonathan hat Mr Simmon mitgeteilt, dass er nicht darauf verzichten wird, einen Wächter zu töten. Wenn wir ihm nicht freiwillig jemanden ausliefern, wird er sich selbst ein Opfer suchen. Er fordert weiterhin einen Ausgleich für den Vampir, den du getötet hast.“
„Dieser Dreckskerl!“, knurrte Jessica und verstaute ihre Munition in der Oberschenkeltasche ihrer olivgrünen Hose. Wieso sie sich unbeirrt weiter für einen Einsatz rüstete, wusste sie nicht. Vermutlich war es die tägliche Routine, nur dass sie das Duschen weggelassen hatte:
Aufwachen. Duschen. Kämpfen. Töten. Schlafen. Aufwachen …
Ein hässlicher Kreislauf, der nur durch ein paar Schäferstündchen mit Frank und Pizza essen mit Mike, oder einem ihrer anderen Wächter unterbrochen wurde. Und natürlich gab es da noch die Besuche bei Bob! Danke Gott, für Tequila und Bob.
„Mr Simmon teilte Jonathans Drohung sofort Master Friedrich mit, der ohne Umschweife Niklas einschaltete. Der Fürst weiß also über den Tod des Vampirs Bescheid und dadurch gewiss der gesamte Zirkel.“

Jessica spielte jetzt aufgeregt mit ihrem Kreuzanhänger, wie sie es oft tat, wenn sie nervös war.
Niklas.
Er war einer der ganz alten Vampire, der nicht nur zum Zirkel des Königs Van Soehlen gehörte, sondern auch der Vampir war, der die Verantwortung über die Blutsauger  in diesem Teil des Landes  trug. Er hatte eine ähnliche Position unter den Verdammten inne, wie Master Friedrich innerhalb der Organisation, und war nur Marcus und Van Soehlen Rechenschaft schuldig. Er nannte sich selbst der Fürst von New York. Arroganter unsterblicher Parasit! New York gehörte den Menschen,  nicht den Blutsaugern!
„Was hat Niklas entschieden?“, fragte Jessica besorgt. Wenn auch Niklas daran festhielt, dass Jessica grundlos einen Vampir ermordet hatte, könnte der Pakt als gebrochen betrachtet werden. Oh Gott!
„Mr Simmon gab mir weiter, dass Niklas Jonathan zu einem Verräter erklärt hat.“
Jessica brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. Verräter. In ihren Strafen ähnelten die Vampire der Organisation manchmal auf erschreckende Weise. Für Verräter gab es nur eine Strafe. Den Tod. Auf Jessicas sinnlichen Lippen zeigte sich ein breites, rachsüchtiges Lächeln. „Dürfen wir ihn jagen?“
„Ja. Jonathan rechnet gewiss nicht mit einem Angriff, da er nicht weiß, dass wir  Kontakt zu Niklas aufgenommen haben. Sei dennoch vorsichtig. Nimm fünf meiner Wächter mit.“
„Fünf? Er ist doch nur einer.“

„Aber er ist ein starker Vampir und hat mit Sicherheit ein paar Sklaven als Wachhunde um sich … Was macht dein Bein? Kannst du überhaupt schon wieder kämpfen?“ Frank schaute misstrauisch auf ihren Oberschenkel.
Jessica ging zu ihm und versuchte nicht zu humpeln, da sie nicht zeigen wollte, dass sie durchaus noch Schmerzen hatte. „Ich bin ein Wächter. Ich kann immer kämpfen.“ Sie umarmte ihn und küsste liebevoll seine glattrasierte Wange. „Danke, dass du mich gehen lässt“, raunte sie in sein Ohr. Sie hatte nicht vergessen, dass er sie eigentlich für zwei Wochen hatte sperren wollen.
„Ich weiß, dass du noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen hast.“ Frank streichelte ihren Rücken. „Töte den Parasiten für die Anmaßung, den Tod einer meiner Wächter zu fordern.“
„Nur zu gern, Sir. Ich schneide ihm sein verfluchtes Herz heraus, bevor ich ihm den Kopf abschlage. Für dich und für die Familie Muttersöhnchen. Du hast mein Wort.“
„Für wen tust du das?“, fragte er erstaunt.
„Nicht so wichtig“, sagte Jessica und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

Drei Stunden später waren Jonathan und seine drei Sklavenvampire tot. Jessica hatte ihm sein Herz heraus geschnitten, doch selbst danach hatte er immer noch gelebt. Alte Vampire waren nicht leicht zu töten, darum hatte Jessica ihm, wie  versprochen, den Kopf abgeschlagen.
Dennoch kehrte Jessica niedergeschlagen in ihre Wohnung zurück. Sie hatten bei diesem Auftrag auch einen Wächter verloren. Ihm war beim Kampf ein Arm ausgerissen worden und der junge Mann war noch im Haus des Vampirs verblutet. Er war erst vierundzwanzig Jahre alt gewesen. Viele Soldatenwächter starben jung, denn Vampire zu töten war gefährlich und Menschen starben schnell. Viel zu schnell.
Jessica warf sich auf ihr Bett und weinte. Muttersöhnchen und seine Freundin waren gerächt, doch der Preis dafür war, wie so oft, viel zu hoch gewesen.
Sie hasste die verdammten Blutsauger.
Sie hasste sie alle.

Und es hörte nicht auf, es schien niemals aufzuhören. Sie und ihre Wächter töteten Vampire, doch es wurden immer wieder neue erschaffen, die die Reihen füllten. Eine verfluchte, endlose Schleife aus Jagd und Tod bestimmte Jessicas Leben, und mit jedem Wächter den sie verloren, vergrößerte sich das Gefühl von Leere in Jessicas Innerem.
Es kamen immer neue Monster.
Mehr Tod, mehr Monster, mehr Tod, mehr Monster … So viel Schmerz.
Für Jessica würde diese Scheiße erst mit einer einzigen Sache enden.
Mit ihrem eigenen Tod.
Müde, sie war so müde. Wie würde es sich wohl anfühlen, endlos schlafen zu dürfen? 

Kapitel sechs
Sophia

Alex setzte sich auf Sophias weißes Ledersofa und holte aus seiner Brusttasche eine Schachtel Marlboro. Zu Erstem hatte Sophia ihn aufgefordert, Letzteres nahm sie grimmig zur Kenntnis. Was glaubte er eigentlich, was er hier tat? Er wollte nicht mehr bei ihr leben, also sollte er sich auch nicht so aufführen, als wäre dies noch sein Zuhause!
„Geh nach draußen, wenn du rauchen möchtest. Bitte.“ Sie platzierte vorsichtig die übervolle, weiße Kaffeetasse vor ihm auf den Couchtisch und stieß dabei mit ihrem Fuß gegen Alex´ Stereoanlage, die er schon abgebaut und auf den Boden gestellt hatte. Seine CDs waren in einer Plastiktüte von H & M verstaut und lagen neben ihm auf dem Sofa. Sophia betrachtete in sich gekehrt die roten Buchstaben auf der Tüte und dann die Musikanlage. Wenn er diese Dinge auch noch mitgenommen hatte, gab es nichts mehr in ihrer Wohnung, was daran erinnerte, dass er mal hierher gehört hatte. Zu ihr. Außer dem Kind in ihrem Bauch. Flüchtig streichelte sie über ihren runden Leib und bemühte sich ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, auch wenn ihre Eingeweide sich vor Sehnsucht und Traurigkeit zusammen zogen. Alex sollte nicht sehen, dass sie noch immer unter der Trennung litt. Und Mist! Sie litt! Sie vermisste ihn, sie vermisste die Vorstellung, mit ihm und ihrem Kind eine Familie werden zu können.
Alex schnaufte unzufrieden und warf die Zigarettenschachtel auf den Tisch. „Bist du jetzt ein Gesundheitsfanatiker geworden?“

„Nein, ich bin schwanger“, sagte sie und fügte in Gedanken ein du Idiot hinzu.
Alex fuhr sich mit der Hand durch sein volles, dunkelbraunes Haar, als ob er sich damit selbst beruhigen könnte. Er trug den Pony länger, als noch vor sieben Monaten. Waren es wirklich schon sieben Monate her, seitdem er gegangen war? Sophia nippte an ihren Kaffee und hielt verbissen, doch auch ohne Schwierigkeiten, daran fest zu verbergen, was in ihr vorging.
„Wie ... wie geht es dir?“, fragte er und zupfte einen Fussel von seiner blauen Jeans.
Sophia musterte ihn kurz, bevor sie antwortete. Seine braunen Augen schauten sie unsicher an und seine Hände waren stetig damit beschäftigt irgendetwas zu tun. Er war nervös. Und er sah noch genauso gut aus wie früher. Ein schöner Mund mit perfekt geformten Lippen, männlich, markante Gesichtszüge und große Augen, die sie vor nicht allzu langer Zeit noch verliebt und träumerisch angesehen hatten. Alex war ein großer, gutaussehender Mann. Muskulös, sportlich und gebildet. Leider war er auch ein egoistisches Arschloch.
Vielleicht gab es hübsche Männer nur in der Kombination mit Arschloch. Wie beim Socken kaufen. Die bekam man schließlich auch nur paarweise.

„Danke. Ganz gut, glaube ich.“ Sophia seufzte. So erbärmlich es war, sie wollte ihn zurück. „Möchtest du etwas essen? Hast du Hunger?“
Er lächelte und schüttelte den Kopf. Sie waren sich in der kurzen Zeit bereits fremd geworden. „Ähm … ich bin auch hier, weil … äh ...“ Er fummelte an der Plastiktüte herum und sah sich plötzlich im Zimmer um, als suchte er etwas. Offenbar fand er nicht den Mut zu sagen, was er wollte, denn er sagte auffallend hastig: „Ist ja nicht mehr viel in deinem Schrank. Außer der alten Kamera. Willst du die nicht wegwerfen? Du hast doch eine andere, eine viel bessere. Keiner fotografiert heute noch analog.“
Keiner hört heute noch CDs! Sophia sprach ihre Gedanken nicht aus, folgte nur seinem Blick zu der Vitrine. Sie war leer, abgesehen von dem alten Fotoapparat. Sophia hatte eine digitale Spiegelreflexkamera, die sie zur Arbeit benutzte. Der Apparat dort im Schrank war tatsächlich eine analoge. Sie verwendete sie nicht, doch wegwerfen würde sie sie niemals!
„Ich habe sie von meinem Vater geschenkt bekommen. Ich hänge an ihr.“
„Oh … Das wusste ich nicht.“ Alex trank einen Schluck Kaffee und schüttelte plötzlich mit einem verärgerten Laut seinen Kopf. „Weißt du eigentlich, dass das der Grund ist, warum ich nicht mehr mit dir zusammen sein kann?“, fragte er.

„So?“ Sophia hob fragend ihre linke Augenbraue. „Wegen einer Kamera hast du mich verlassen? Ich dachte wegen deiner blonden Kollegin, die so viel unkomplizierte ist als ich. Wie hieß die doch gleich? Tanja?“ Sie war sauer und erstaunt, dass er ihr offensichtlich Vorwürfe machen wollte, wo er doch sie betrogen und verlassen hatte.
Alex runzelte seine Stirn und sah sie jetzt herausfordernd an. Er war noch nie ein Mann gewesen, der einem Streit aus dem Weg ging. Ob er im Recht oder Unrecht war, spielte für ihn dabei  keine Rolle. Vielleicht sah er sich aber auch ausnahmslos im Recht. Das würde gut zu ihm passen. Wieder ein Beweis für Sophias Socken/Männer-Theorie.
„Tatjana. Ihr Name ist Tatjana und ich bin nicht mehr mit ihr zusammen.“
Sophia zögerte. Sie hatten sich getrennt? Wollte er vielleicht zu ihr zurückkommen? „Oh!“ Jetzt wurde sie nervös und drehte ihre Kaffeetasse in ihren Händen.
„Ich meinte eben etwas anderes, Sophia. Wir waren drei Jahre zusammen und ich wusste nicht, dass du diese Kamera von deinem Vater geschenkt bekommen hast.“
Sophia erhob sich und kehrte ihm den Rücken zu. Ihre Wut war sofort wieder zurück. „Das ist ein guter Grund, um jemanden zu verlassen. Ich sehe ein, dass alles meine Schuld ist“, sagte sie sarkastisch.

„Ach, Fuck. Diese blöde Kamera ist doch nur ein Beispiel. Ich rede davon, dass ich nicht wusste, dass sie dir wichtig ist, weil du sie von deinem Vater bekommen hast. Ich weiß nichts von dir, da du nichts von dir preisgegeben hast. Nie!“, schrie er sie an.
Sophia zuckte ihre Schultern. „Es gibt nicht viel, was ich dir erzählen könnte, Alex.“ Und es gab tausend Dinge, die sie lieber getan hätte, als über ihre Vergangenheit zu sprechen. Ihre Bikinizone entwachsen zum Beispiel oder eine Zahnwurzelbehandlung.
„Ich war mit Tatjana nur zwei Monate zusammen und ich weiß mehr von ihr, als von dir. Ich habe ihre Eltern kennengelernt, ich weiß auf welche Schule sie gegangen ist, kenne ihre Hobbys. Von dir weiß ich nur, dass du gerne fotografierst und … Fuck, ich glaube das war es auch schon. Ach nein. Du trinkst  Kaffee in einer Menge, wie andere Leute Wasser. So, das war jetzt aber  alles.“

„Meine Eltern sind tot, Alex. Ich kann sie dir nicht vorstellen.“ Sophia wirbelte zu ihm herum und kämpfte gegen ihre Tränen. Mühelos wie immer. Sie weinte nie. „Was soll das? Bist du hier, um mit mir abzurechnen? Du hast mich verlassen. Du hast mich betrogen. Du hast mir ein `Post it` an den Kühlschrank geklebt, mit den Satz: Tut mir leid, aber ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein. Was willst du mir also vorwerfen?“
Nein, Alex wollte sicher nicht zu ihr zurückkehren und vermutlich war das auch das Beste. Eigentlich sollte sie froh sein, dass sie ihn los wurde … Es tat  trotzdem weh. Sie hatte sich so sehr eine Familie gewünscht, eine Familie mit einem Vater für ihr Kind, einen Ehemann für sie. Doch das wollte, konnte Alex ihr nicht geben.
„Ich weiß, dass deine Eltern tot sind. Doch du hast mir nie erzählt wie sie gestorben sind.“
„Es war ein Unfall“, sagte Sophia schwach und fühlte sich mit einem Mal nur noch müde. Die Vorwürfe, die er ihr machte, waren  weder neu, noch waren sie ungerechtfertigt.
„Was für ein Unfall?“
Sophia holte tief Luft und schritt zum Fenster. Sie wollte nicht so nahe bei ihm stehen. Das konnte sie jetzt nicht ertragen.

„Wann sind sie gestorben?“, fragte er weiter und dann sprudelte immer mehr aus ihm heraus. „Wo warst du, als sie starben? Wo hast du gelebt, bevor du hierher gezogen bist? Auf welche Schule bist du gegangen? Hast du noch mehr Verwandte? Wo sind deine Eltern beerdigt? Hast du Geschwister? Mein Gott. Mir fallen tausend Fragen ein, Sophia. Ich habe sie dir schon tausend Mal gestellt, doch niemals eine Antwort bekommen. Warum nicht? Du hast mich nie ein Teil deines Lebens werden lassen.“
„Du wolltest kein Teil meines Lebens mehr sein, Alex. Ich wollte mein Leben mit dir verbringen. Meine Zukunft, nicht meine Vergangenheit!“ Anders als er, blieb Sophia ruhig, auch wenn sich ihr Innerstes anfühlte, als wäre es eine zerborstene Glasscheibe. Zersplittert.
„Du hast aber nicht nur eine Zukunft, sondern auch eine Vergangenheit. Dein Leben hat nicht erst vor vier Jahren begonnen, als wir uns kennenlernten. Was war mit der Zeit davor? Was hat dich zu der Frau gemacht, die du bist? Wieso bist du immer so – so kalt und reserviert? Mein Gott! Manchmal glaube ich, du hast gar keine Gefühle.“
„Du weißt, dass das nicht wahr ist. Ich habe Gefühle und du hast sie mit Füßen getreten.“
„Dann zeig sie mir doch. Du schreist nicht, wenn du wütend bist, du weinst nicht, wenn du traurig bist, du lachst nicht, wenn du dich freust. Du bist kalt wie ein Fisch. Ich kann mit einem Fisch ohne Vergangenheit keine Zukunft haben. Darum bin ich gegangen!“
Stille.

Die Ruhe war fast noch unerträglicher, als seine Fragen. Sophia schaute durch das Fenster auf die Straße. Es dämmerte bereits und es goss in Strömen. Die Sonne war hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Kein Wetter, um schöne Fotos zu schießen. Alles wirkte so grau, kalt und trist. Auf der Straße stand eine kleine, schlanke Frau. Sie trug einen langen schwarzen Mantel und hatte  ihre Kapuze tief ins  Gesicht gezogen, sodass man es nicht erkennen konnte. War das nicht die gleiche Frau, die sie schon einmal gesehen hatte? Mit dem gleichen merkwürdigen Aufzug?
„Bekomme ich eine Antwort auf irgendeine meiner Fragen? Nein, natürlich nicht. Du schweigst. Wie immer!“
Sophia schaute kurz zu Alex und sofort wieder hinunter zur Straße. Erschrocken sog sie die Luft ein und trat einen Schritt zurück. Die Frau war verschwunden. Wo war sie so schnell hingegangen? Alex war allerdings noch nicht fertig damit, ihr Fragen zu stellen.
„Und deine Narben? Kommen die von dem Unfall? Das würde mich jetzt wirklich interessieren.“
Sophia spürte förmlich, wie Alex sie anstarrte. Mit ihren schlanken Fingern fühlte sie über die rundliche, münzgroße Narbe an der Innenseite ihres Unterarms. Ihre Arme waren nicht sehr vernarbt. Aber ihr Rücken …

Gut, er wollte es wissen? Verflucht nochmal! Fein! Ohne ihn anzusehen, begann sie zu erzählen:
„Es war vor acht Jahren. Ich war achtzehn. Ich war erst achtzehn Jahre alt, als sich mein ganzes Leben verändert hat. Diese Fotokamera schenkte mir mein Vater. An dem Tag, an dem meine Eltern starben, habe ich sie von ihm bekommen. Ich bin sofort mit meiner Kamera den ganzen Tag unterwegs gewesen. Ich bin durch Berlin gefahren und habe bestimmt zweihundert Fotos geschossen. Ich kam erst abends wieder nach Hause. Wir wohnten in Berlin-Charlottenburg. Meine Eltern hatten dort ein schönes, großes Haus, mit einem riesigen Garten.“ Sophia ging zu ihrer Vitrine, öffnete die Glastüren und holte die alte Kamera heraus. Es war noch der Film von damals darin. Drei Bilder waren noch frei. Seit acht Jahren. „Als ich zu unserem Haus kam, sah ich schon von weitem Feuerwehrautos, Rettungswagen und Polizei … Aber nicht unser Haus … Nur noch Schutt … Es war-“
„Oh … Sophia. Es tut mir leid“, flüsterte Alex und zum ersten Mal in aller der Zeit klang es wirklich aufrichtig. 

„Wir hatten eine Gasheizung und – es gab ein Leck oder so. Das Haus war explodiert. Meine Eltern starben darin. Sie hatten keine Chance. Nichts war bei der Explosion heil geblieben. Ich hatte nur noch die Klamotten auf meinem Leib und die Kamera … Ich war entsetzt, wütend, verzweifelt. Ich habe mich in mein Auto gesetzt und bin losgefahren. Viel zu schnell. Ich wollte nur noch weg.“ Sophia drehte sich zu ihm und drückte die Kamera an ihre Brust. „Ich habe die Kontrolle über meinen Wagen verloren und bin frontal gegen einen Baum geknallt. Ich wäre meinen Eltern beinahe gefolgt. Ich habe drei Monate im Koma gelegen, jeder Knochen war gebrochen, mein Gehirn gequetscht und ich hatte so starke innere Blutungen, dass kein Arzt glaubte, dass ich die Verletzungen überleben würde … Doch ich habe überlebt. Meine Knochen sind verheilt, aber mein Körper ist für immer durch Narben entstellt. Durch die Blutungen in meinem Gehirn habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich erinnere mich an so gut wie nichts mehr aus der Zeit vor dem Unfall. Nur an den einen Tag, an dem ich mein Heim, meine Eltern und meine Erinnerungen verloren habe. Die Kamera ist das einzige, was aus meiner Vergangenheit unbeschadet überdauert hat. Die vollen Filme sind bei dem Unfall verloren gegangen. Der Film, der noch eingelegt ist, den habe ich nie zum Entwickeln gebracht. Ich will nicht wissen, womit ich meine Zeit vergeudet habe, während meine Eltern verbrannten.“ Sophia legte die Fotokamera vorsichtig und beinahe liebevoll zurück in den Schrank. Als sie ihre Stirn gegen das kalte Glas der Schranktür lehnte, hörte sie wie Alex aufstand.
„Ähm … Vielleicht sollte ich gehen.“
Sophia wandte ihm ihr Gesicht zu und raffte ihre Schultern. „Zuviel Wahrheit, Alex? Zuviel Gefühl gezeigt? War es nicht das, was du hören und sehen wolltest? Ich habe keine Verwandten, von denen ich wüsste, die ich dir hätte vorstellen können. Ich habe nur mich, somit kennst du alles, was es über mich zu wissen gibt. Und bald habe ich noch unser Kind.“
Alex´ Blick fiel auf ihren gewölbten Bauch. „Äh … ja. Bist du denn sicher, dass es von mir ist?“

Sophia hob wieder ihre linke Augenbraue und ballte ihre Hände zu Fäusten. Es war die einzige Regung, die zeigte, dass sie wütend wurde. „Na ja, es waren so viele, die als Vater in Frage kamen. Also habe ich eine Münze geworfen und immer einen ausgeschlossen, bis nur noch einer übrig blieb. Du hast gewonnen!“
„So meinte ich das nicht!“, sagte er schnell und hob abwehrend seine Hände.
„Wie meintest du es denn, Alex? Du bist der Vater!“
„Ach verdammt!“, schnaufte er und rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht. „Ich wünschte, ich wäre es nicht!“
Sophia war ein sehr kontrollierter Mensch, ja, sie hatte Schwierigkeiten ihre Gefühle zu zeigen, so als hätte man sie gelehrt, sie ständig unterdrücken zu müssen, doch bei diesem Satz zuckte sie zusammen. „Ich … Du wirst dich nicht um mein Baby kümmern … Alex?“, flüsterte sie. „Um unser Baby? Gar nicht?“ Oh Mist. Er ließ sie wirklich völlig im Stich. Wie Lilli es gesagt hatte.

Sophia erkannte in seinen Zügen nur noch Wut und Ablehnung. Hatte er sie überhaupt jemals geliebt?
„Ich habe für so was keine Zeit.“
Keine Zeit? Sophia senkte ihren Blick auf den Tisch. Alex hatte seinen Kaffee kaum angerührt. Ihrer war leer. Keine Zeit. Darauf konnte sie nichts erwidern.
„Was ist mit Unterhalt? Wirst du mich auf Unterhalt verklagen?“, fragte er, stand auf und hob gleichzeitig seine Musikanlage und die Plastiktüte auf. So vollgepackt blieb er im Flur stehen und spähte durch die offene Zimmertür zu ihr.
„Verklagen?“, höhnte sie abfällig. „Keine Sorge, Alex. Behalte dein Geld. Ich komme allein zurecht.“

Er nickte und öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen. Sein Blick wurde etwas milder, doch dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging.
Sophia starrte Minuten lang auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Alex war fort und sie war wieder allein. Nicht ganz allein. Sie streichelte ihren Bauch und ging in die Küche. Sie brauchte dringend noch einen Kaffee. Während die Senseomaschine ihr diesen Wunsch erfüllte, trat Sophia ans Küchenfenster und verfolgte mit einer Fingerspitze einen Regentropfen, der an der Scheibe nach unten rann. Gedankenverloren schaute sie traurig auf die Straße. Alex! Oh Alex!
Dann entdeckte Sophia plötzlich wieder die kleine Frau mit dem schwarzen Mantel. Sie hätte sie beinahe übersehen, da sie fast mit dem Schatten der Häuserwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite verschmolz.
Sophia spürte, wie eine Gänsehaut ihren vernarbten Rücken überzog. Sie wusste nicht wieso, doch instinktiv ahnte sie, dass diese Frau gefährlich war.
Eine Gefahr? Wie sollte so eine kleine Frau gefährlich sein?
Die Frau hob ihren Kopf und blickte zu Sophia hoch.

Was sollte das?
Wieso stand sie wieder dort und starrte zu ihr hinauf?
Die sollte sich jemand anderen zum Stalken suchen!
Sophias Zorn vertrieb ihre Furcht und auch ihre Trauer. Das war gut. Wut war gut. Wut tat nicht so weh wie Traurigkeit, lähmte nicht, sondern verlieh ihr neue Kraft.
Sophia eilte aus ihrer Wohnung und hinaus auf die Straße, um diese Unbekannte zur Rede zu stellen. Doch die Frau war nirgends mehr zu sehen. Sophia lief den Bürgersteig in beiden Richtungen ein Stück ab,  ohne Erfolg. Es gab keine Spur von ihr. 

„Wo bist du nur?“, flüsterte Sophia und hatte das erschreckende Gefühl, dass diese seltsame Fremde  ganz in ihrer Nähe war.
Sie beobachtete …
Sie belauerte …
Sie – jagte? 

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